»Beethoven ist extrem, radikal, auch verstörend. Die Musik ist aber von der Form her sehr klar und gleichzeitig sehr leidenschaftlich.« Wenn die Dirigentin Anja Bihlmaier über Beethoven redet, betont sie die Gegensätze. Beethoven fordere zum Denken auf, zugleich werde man von ihm innerlich aufgerührt. Doch aus diesen beinahe gegensätzlichen Qualitäten entstehe bei Beethoven kein Chaos. Vielmehr verbinde sich hier auf einzigartige Weise musikalische Präzision und Leidenschaft. Und sofort geht Bihlmaier zur Frage über, wie diese besondere Kunst denn klingen kann, wenn man sie heute spielt. »Ich habe den besten Job der Welt«, sagt sie noch. Nach einem Gespräch mit ihr wird klar: Sie ist wohl auch die beste Kandidatin für diesen Job. Denn Anja Bihlmaier schafft es, Worte für Musik zu finden, die ihre Faszination greif- und nachvollziehbar machen.
Anja Bihlmaier debütiert im Beethovenfest 2024 »Ich habe den besten Job der Welt«
Als Dirigentin steht sie an der Schnittstelle: Zwischen Gedanken und Klang, zwischen Wort und Musik. Dirigieren ist der Beruf, der alles zusammenbringt. »Ich bin in der Mitte der Energie«, sagt Anja Bihlmaier.
Dass sie sich an diesem Platz sehr wohlfühlt, wusste sie schon früh, beim ersten Dirigieren des Schulorchesters, noch als Teenagerin: »Das ist das, was ich will. Das ist das, was ich am besten kann. Und das macht mich unglaublich glücklich!« Mittlerweile steht sie bei den Proms in London vor 8.000 Menschen und leitet außerdem ihr eigenes Orchester, das Den Haager Residentie Orkest. Chefdirigentin zu sein sei durchaus anders, »wie in einer Beziehung«, sagt sie, denn hier arbeite man auf einer tieferen Vertrauensbasis. Und könne sich dementsprechend mehr ins Risiko wagen, mehr austesten. Einen eigenen Klang finden? Darum geht es Anja Bihlmaier nicht in erster Linie. Sie glaube weniger an den spezifischen Klang eines Orchesters unter einer bestimmten Dirigentin oder einem bestimmten Dirigenten, sondern mehr an den spezifischen Klang einzelner Komponist:innen, sogar einzelner Werke oder einzelner Sätze.
Also ganz konkret: der langsame Satz in Beethovens Siebter. Einen Trauermarsch sehe sie darin, man gehe unerbittlich auf etwas zu, ohne innezuhalten. Für die Streicher sieht sie da einen schlichten, fahlen Klang mit einer klaren Artikulation vor. Später kommt die Melodie hinzu, für Bihlmaier etwas Transzendentes. Da ist dann so etwas wie Schönheit möglich. Das heißt für sie, die Streicher mit mehr Wärme und mit Vibrato spielen zu lassen. Ihr sind ganz konkrete Anweisungen für das Orchester wichtig, um die inhaltlichen Aspekte hörbar zu machen. Die rein virtuose oder nur auf Schönheit zielende Umsetzung von Musik ist ihr fremd. Da fehlt die Substanz. »Die Komponist:innen haben sich ja etwas dabei gedacht«, sagt sie. Ihre Aufgabe ist, das zu gestalten – und für ihr Publikum spürbar zu machen.